Es war einmal eine Welt voller Sicherheit und Zuverlässigkeit. Eine Welt voller Licht. Das Innere und das Äußere dieser Welt waren streng konturiert, ihre Zeitachse war flach und geradlinig. Lebewesen und Gegenstände hatten einen Platz und eine Bestimmung; die allgegenwärtig sicht- und fühlbare Ordnung hatte eine Hierarchie im Denken und Handeln etabliert, die nur von Narren hinterfragt wurde. Die dunklen, unvorhersehbaren oder unheimlichen Bereiche dieser Welt waren bloß noch nicht erforscht und domestiziert; man wusste jedoch, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis das Licht die letzten Winkel dieser Welt erobern würde.
In dieser Welt hatte der Begriff „Wahrheit“ eine unbestrittene und nicht-ironische Bedeutung. Die Wahrheit war eine ein für alle Male definierte, unveränderliche Monade, die sich gerne versteckte und entdeckt werden wollte. Danach zu streben war kein naives oder gar totalitäres Anliegen, sondern ein humanistisch-wissenschaftliches Projekt. Nach der Wahrheit (denn es gab nur eine Wahrheit) zu suchen war eine Wohltat. War diese Welt besser als unsere? Es war jedenfalls leichter, sich in dieser Welt zurechtzufinden. Es war leichter, das Gute vom Bösen zu trennen, den Fakt von der Mär, den Wahn von der Normalität.
Das war einmal. Heute nennen wir diese Welt „Moderne“ und schauen mit einer Mischung aus Wehmut und peinlicher Berührung auf sie zurück.
Alle Künstlerinnen und Künstler der Ausstellung „Wir sind nicht sicher“ sind nicht in dieser Welt geboren oder groß geworden, sondern in einer späteren. Sie sind in einer Welt geboren worden, in der die Chaostheorie, die Säkularisierung, die dissoziative Identitätsstörung, der Relativismus, der radikale Konstruktivismus, die chemische Bewusstseinserweiterung, die Quantenmechanik, die Schrödingerʼsche Unbestimmtheit und die kubistische Multiperspektivität, das „Anything goes“ von Feyerabend und der „Tod des Autors“ von Barthes als selbstverständliche Postulate hingenommen und verinnerlicht wurden. Eine Welt, die das Ende der reinen Vernunft, der Linearität und des Determinismus markierte und damit das Ende der bisherigen Sicherheiten. Sie haben in doppelter Hinsicht die Abwicklung der großen Erzählungen erlebt – erstens als Kinder ihrer Zeit und zweitens als Kunstschaffende, die eine natürliche Beziehung zur Mehrdeutigkeit, Offenheit und Ambivalenz unterhalten.
Diese Künstlerinnen und Künstler gehen von einer medial konstruierten Welt aus, die sich parallel zur natürlichen Welt entfaltet und zahlreiche Schnittstellen mit ihr unterhält. Dieses Gebilde existiert seit eh und je – es ist vielleicht sogar eine der Bedingungen für die Entstehung von Kultur überhaupt –, aber es ist dabei, unsere unvermittelte Wahrnehmung der natürlichen Welt zu beeinträchtigen. Wir leben immer mehr in einer Blase, in einer artifiziellen Sphäre – das Anthropozän ist nicht nur die aktualisierte Beschreibung des menschlichen Einflusses auf sein Ökosystem, sondern beschreibt auch die kognitiv-emotionalen Prozesse dieser holistischen Umformung – und unterscheiden, bewusst oder unbewusst, immer weniger zwischen Original und Nachahmung.
Dies hat wiederum mit der Entwicklung und Popularisierung von neuen Technologien zu tun, die im Ausstellungsprojekt von Ilona Hellmiß teilweise direkt benannt werden. Dank leicht zu bedienender Hart- und Software, digitalen Tools, Endgeräten aller Arten, Bots, Algorithmen, sozialen Netzwerken und User-Plattformen sind wir nun in der Lage, das Rohmaterial unserer Existenz zu transformieren, ja zu transzendieren. Wir sampeln unsere Erinnerungen und kombinieren sie neu bis zur Entstehung einer neuen Fiktion, wir interpretieren Fakten bis zur Konstituierung von alternativen Wahrheiten, wir morphen und manipulieren Bilder und führen sie in die „reale“ Welt wie Trojaner, fügen Avatare zu Avataren hinzu, duplizieren das Organische und imitieren die Kopie der Kopie einer Kopie. Alles geschieht hastig, in einer Überbietung der Mittel und der Möglichkeiten. Wir können über nichts Gewissheit haben und stellen daher alles oder gar nichts mehr unter Verdacht. Ist das ein Stück Fleisch auf meinem Teller oder eine schmackhafte und umweltrettende Simulation? Ab wann ist eine Falschmeldung eine betrügerische Fake News? Bist du ein Freund in der Not oder bloß ein Phishing-Versuch? Und, um Kippenberger zu paraphrasieren: Gibtʼs mich wirklich? Die Frage, die wirklich gestellt werden sollte, ist allerdings: Macht es noch Sinn, solche Fragen zu stellen?
Der Clou dieses mal besorgten, mal befreiten, mal mahnenden, mal resignierten Spiels mit der Unsicherheit ist die Ausstellung selbst. Als etabliertes Dispositiv im Kunstbetrieb ist die Ausstellung ein diskursiver Raum. Im schlimmsten Fall ignoriert der Raum diese spezifische Funktion und gibt sich als bloße architektonische Hülle aus; im besten Fall aber werden die Raumeigenschaften zu integralen Bestandteilen der Ausstellung und betonen deren Hauptthese. Im Fall der Ausstellung „Wir sind nicht sicher“ erfolgt sogar eine (unwillkürliche, dennoch passende) Volte: Die von Covid-19 verursachten Einschränkungen und damit den Zugang zu den Riedel-Hallen zwang Hellmiß und alle Künstler*innen umzudisponieren. Anstatt bei einem „echten“ Besuch in den realen Räumen kann die Ausstellung nur noch per Videostream vermittelt erlebt werden. Die Iteration ist perfekt. Das Medium der Reflexion ist somit auch zum Objekt geworden, das nicht nur die ästhetischen Argumente trägt und räumlich artikuliert, sondern sozusagen körperlos verkörpert. Die Aporie des Dispositivs liegt in der Unmöglichkeit/Unfähigkeit des Rezipienten, die Installationen und Objekte der Ausstellung sinnlich zu erfassen und ein vermeintliches Realitätsüberbleibsel hinter den subtil gebauten Realitätsmodellen zu entdecken.
Dieser Wink des Schicksals will uns vielleicht sagen: Es gibt kein Entrinnen. Wir bleiben in der Matrix gefangen.
Emmanuel Mir, April 2020